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Der König ist tot...
...und lang, sehr lang hat er gelebt.
Heute, am 18. Mai 2000 um 7.34 hat ein wahrer König unsere Welt verlassen. Seine Regierungszeit war geprägt von gelassener Souveränität, die keinerlei Gewalt auch nur als Andeutung nötig hatte, und einer wortlosen Weisheit, die mich und wahrscheinlich jeden, der ihn kannte, in Erstaunen versetzt.
Die Grenzen seines Reiches kennt keiner von uns, aber wir hatten das Glück, im Kernbereich seines Einflussgebietes zu wohnen, und wir genossen die Gnade, ihm dienen zu dürfen.

Seine Herkunft liegt im Dunkeln. Herrscher war er nicht von Geblüt, sondern von Format. Erst als ein fester Wohnsitz, den er sich frei wählte, ihn in die Rechte einsetzte, die ihm gebührten, begann sein Stern wirklich zu strahlen. Denn - ja, es ist wirklich wahr - noch vor kurzen vier Jahren war unser König heimatlos, und wie es den Heimatlosen eigen ist, hatte er seine majestätische Natur der Befriedigung schnöder Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen unterzuordnen, indem er sich jede einzelne davon von Tag zu Tag neu zu beschaffen gezwungen war.
Auch damals schon war sein Auftritt unübersehbar, doch hielt er strikte auf Distanz, und sein Unsichtbarwerden war wenn möglich noch unvermittelter als sein Auftauchen.

So war der König, den ich GrouGrou nennen durfte, denn bei all seiner Würde war er doch nicht unnahbar, und wir wurden Freunde. Nicht von heute auf morgen, nein, es dauerte fast ein Jahr, bis er meine sichtbare Gegenwart bei seinen Mahlzeiten duldete, und weitere Monate, bis er mir zum erstenmal gestattete, ihn zu berühren.
Eingezogen ist er bei mir und meinem Freund während eines zweiwöchigen Skiurlaubs, als wir nicht zu Hause waren. Wir hatten ihm, der bis dahin schon einige Male in unserer Schreibtischschublade übernachtet hatte, eine Tür in unsere Fensterscheibe schneiden lassen, wir hatten ihm mittels einiger Tricks den Gebrauch dieser Tür erläutert, und wir hatten in der Wohnung genügend Wasser und Trockennahrung bereitgestellt. Als wir wiederkamen, wohnte er bei uns. Die Tür hat er übrigens zeitlebens mit der rechten Hand geöffnet, wie er es mich hatte tun sehen, und nicht mit dem Kopf.
Mein Menschenkopf war einfach zu dick gewesen, um es ihm so zu demonstrieren...

Als GrouGrou nach einer Operation am Ohr die Wohnung einige Zeit nicht verlassen sollte, machte er sich - ebenfalls rechtshändig - an der verriegelten Katzentür zu schaffen und öffnete sie innerhalb von drei Minuten, indem er das Rädchen drehte. Nur mein sofortiges Eingreifen verhinderte ein Erfolgserlebnis und damit die Etablierung der Methode.

So wurde ich sein Minister für Ernährung und Unterbringung, welche Leistungen er aber immer wieder outgesourced hat, vermutlich um meine Konkurrenzfähigkeit zu testen...
Zu Beginn äusserst reserviert, setzte er zeitlich und räumlich sehr enge Grenzen fürs Streicheln. Ich durfte nur, wenn ich ausdrücklich dazu aufgefordert worden war, und ausschliesslich an den Orten, die er mir präsentierte. Die geringste Abweichung wurde ohne Warnung sofort bestraft. Dennoch bin ich - mit äusserster Vorsicht, wohlgemerkt - immer wieder an die Grenzen gegangen und habe sie mit der Zeit derart erweitert, dass er in den letzten beiden Jahren sogar auf den Schoss genommen sein wollte. Mir zuliebe hatte er einen Warnton eingeführt, der mir bei augenblicklicher Beachtung die Konsequenzen ersparte.

Auch ich verwendete einen leisen Warnton, um meine eigenen Grenzen zu wahren. Auf ein Pschpscht von mir nahm GrouGrou Abstand davon, mein Schlafzimmer zu betreten, das ich meines Asthmas wegen katzenhaarfrei halten muss, oder nahm die Händchen wieder vom Esstisch, die er in der Absicht, hinaufzuklettern, bereits auf der Kante liegen hatte. Es war ein Zusammenleben getragen von gegenseitigem Respekt und Vertrauen. GrouGrou fehlt mir sehr.

Wie weit seine Welt mindestens reichte, habe ich erst erfahren, als seine Zeit ablief. Freunde beobachteten seinen Zustand, Freunde schlugen Alarm, Freunde brachten ihn in Sicherheit, und ein Arzt, sonst spezialisiert auf Pferde, hat sein Leben bis zu unserer Rückkehr verlängert.

Dennoch war ihm nicht mehr zu helfen. Seine letzten Tage und Stunden hat er nicht in einer anonymen Stahlbox unter schweren Medikamenten verbringen müssen. Wir haben ihn nach Hause genommen und ihn auf seinem Weg in die andere Welt begleitet. Gestern noch haben B. und ich ihn in seinen Park getragen, wo er wieder er selbst sein konnte: Bei aller Schwäche ehrfurchtgebietend wie ein alter Löwe. Als er nach zwei Stunden Anstalten machte, nach Hause zu gehen, habe ich ihn zurückgebracht. Er schien entspannt, fast glücklich. Bis 7 Uhr früh ist er kontinuierlich schwächer geworden, dann begann er zu kämpfen. Sein letzter Protest klang wie eines der statements, die er zu machen pflegte, wenn er gegen seinen Willen z.B. zum Arzt musste, nur viel nachdrücklicher. Er war nicht einverstanden mit dem, was ihm geschah, doch er musste sich letztlich fügen. Mein Freund und ich waren bei ihm bis zum Schluss.

All jene Freunde, die "meinem" Kater geholfen haben, ich habe sie als solche erst durch sein Sterben kennengelernt. Ohne ihn sind wir nicht mehr als ein verwaister Hofstaat. Wir treffen uns wieder, um diesen König seinem Reich zurückzugeben: Ohne seine Autorität würden die Füchse des Quartiers sonst sofort in Chaos und Anarchie zurücksinken...
Darüberhinaus aber werden wir uns zeitlebens anerkennen als Menschen, deren Interesse sich nicht im Materiellen erschöpft, die miteinander das Mitfühlen und den Respekt teilen für die lebende Kreatur.

GrouGrou, wir vermissen dich alle.

Herzlichen Dank Ingrid!